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von Fiona Wüstenberg: Der Buchfalter

Sarah ist nicht so wie andere Kinder in ihrem Alter. Wenn andere shoppen oder ins Kino gehen, bleibt sie zu Hause und liest. Während andere sich bei WhatsApp oder Snapchat unterhalten, sitzt sie am Schreibtisch und schreibt Geschichten. Heute schreibt sie an ihrer Geschichte über Lisa und ihre Freundin Anna, die im Rollstuhl sitzt. Es ist schon nach 9 Uhr abends und Sarah kommt einfach nicht weiter. Ihre Mutter kommt rein und sagt ziemlich wütend zum dritten Mal, dass Sarah endlich ins Bett gehen soll. Seufzend geht Sarah ins Bad und anschließend ins Bett. Ihr Notizbuch liegt offen auf dem Tisch.
Als Sarah aufwacht, will sie eigentlich weiterschreiben. Aber ihre Mutter verlangt von ihr, dass sie erst einmal ihr Zimmer aufräumt. Als Sarah beim Schreibtisch ankommt, fällt ihr ihr Notizbuch in die Hände und sie beginnt zu lesen, was sie bereits geschrieben hat. Aber was ist das! Das hat sie doch gar nicht geschrieben. An der Stelle, an der sie gestern nicht weitergekommen ist, geht die Geschichte weiter. Aber sie kennt den Text nicht. Und  doch ist es eindeutig ihre eigene Handschrift. Seltsam, hat sie die Geschichte im Schlaf weitergeschrieben? Der neu hinzu gekommene Text gefällt ihr und schon setzt sie sich hin und schreibt weiter. Sarah schreibt und schreibt, bis ihr wieder nichts mehr einfällt. So macht sie erst einmal eine Pause und liest in dem Buch weiter, das sie bald in die Bücherei zurückbringen muss. Nach dem Abendessen versucht sie vergeblich, ihre Geschichte fortzuführen. An diesem Abend stürmt es sehr, so dass Sarah anders als sonst mit geschlossenem Fenster schläft.
Am nächsten Tag hat Sarahs Oma Geburtstag und feiert ihn mit der ganzen Familie. Eigentlich hat Sarah keine Zeit für ihre Geschichte, aber beim Mittagessen hat sie eine so fabelhafte Idee, dass sie sie direkt aufschreiben muss. Glücklicherweise hat sie immer ein paar Zettel und einen Kugelschreiber dabei. Schnell ist ihre Idee notiert. Als sie am Abend nach dem Fest wieder zu Hause sind, formuliert Sarah aus ihren Notizen richtige Sätze und schreibt sie in ihr Notizbuch. Als sie nicht mehr weiter kommt, bemerkt Sarah, wie müde sie ist, schließt ihr Notizbuch und geht schnell ins Bett.
Während der nächsten Tage kommt Sarah selten zum Schreiben und wenn sie doch mal Zeit hat, dann fallen ihr nur wenige kurze Sätze ein. Dennoch stehen in ihrem Notizbuch immer wieder Sätze, von denen Sarah sich sicher ist, dass sie sie nicht geschrieben hat, obwohl es ihre Handschrift ist. Sarah überlegt, wie das sein kann. Ihr fällt auf, dass wenn das Fenster in der Nacht geschlossen war, nichts dazu gekommen ist.  Und wenn das Notizbuch geschlossen war, auch nicht. Also war nur dann etwas dazu gekommen, wenn das Notizbuch und das Fenster in der Nacht geöffnet waren. Also, wenn ich heute Abend wieder nicht weiter komme, lasse ich Fenster und Notizbuch offen. Mitten in der Nacht wacht Sarah auf. War da nicht ein Geräusch? Sie lauscht… Ja, ein Geräusch wie von einem Füller, der übers Papier fährt. Sarah knipst das Licht an. Auf ihrem Notizbuch sitzt ein weißer Falter, der, wenn man genau hinsieht, lauter Buchstaben auf seinen Flügeln hat. Der Falter fährt mit seinem Rüssel übers Papier. Sarah schaut ihm eine Weile gebannt zu, doch dann fallen ihr wieder die Augen zu. Am  nächsten Tag will ihr der Falter einfach nicht aus dem Kopf gehen. Hat sie ihn nur geträumt? Aber da steht wieder ein neuer Text in ihrem Notizbuch.

Als sie an diesem Tag in der Bücherei ist, um sich neues Lesefutter zu besorgen, fällt ihr ein Buch aus dem Regal entgegen. Eigentlich will sie es direkt wieder ins Regal stellen, doch als ihr Blick auf den Buchdeckel fällt, sieht sie einen Falter, der genauso aussieht wie der aus ihrem Traum. Natürlich muss sie das Buch ausleihen. Zuhause liest sie sofort in dem Buch. Bei dem Bild mit dem Falter steht:
Buchfalter
Ein Wesen, das der Legende nach von einem unvorsichtigen Zauberlehrling erschaffen wurde. Der Lehrling spielte mit einer herausgerissenen Buchseite, die sich in einen Falter verwandelte und zum Fenster hinaus flog. Der Buchfalter soll Schriftstellern helfen, wenn sie einmal mit ihrer Geschichte nicht weiterkommen.

Jetzt ahnt Sarah, woher die neuen Texte in ihrem Notizbuch kommen. Also war es vielleicht doch nicht nur ein Traum. Am Abend schreibt sie an ihrer Geschichte weiter, aber schon nach wenigen Sätzen fällt ihr wieder nichts ein. Heute Abend lässt sie ihr Notizbuch absichtlich aufgeschlagen bei offenem Fenster auf dem Tisch liegen.
Als sie in dieser Nacht wieder wach wird und das Licht anmacht, ist der Falter wieder da. Sarah schaut ihm eine Weile zu und fragt dann leise und vorsichtig: „Bist du wirklich der Buchfalter?“ Der Falter antwortet: „Ja, du hast von mir gelesen, oder?“ Sarah nickt. Der Falter fährt fort: „Ich kenne das Buch, aber da steht nicht alles drin. Zum Beispiel kann ich nur helfen, wenn nachts das Fenster offen ist und das Notizbuch offen auf dem Tisch liegt, wie du vielleicht schon bemerkt hast. Außerdem komme ich nur zu den Menschen, für die Bücher wirklich wichtig sind. Eigentlich zeige ich mich niemandem, aber du hattest Glück und bist in der Nacht aufgewacht.“ Mit diesen Worten flog der Falter wieder zum Fenster hinaus.

von Fiona Wüstenberg (14 Jahre)

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